Baikal Winter 2024

Februar 2024
über die Mongolei auf dem Transsib zum Baikaleis
Natur, Land und
Leute
Baikalsee mit dem Auto
überqueren

Reise in die slawische Kammer meiner Seele

Svent Gustav
Nürnberg, Deutschland
Die Entstehung der Idee zu einer Reise an den Baikal ist heutzutage schnell erklärt:
Ich sah auf FB Fotos vom russischen Photographen Ruslan Gubaydullin und war regelrecht angefixt - der Mann war im Winter auf dem Eis des Baikal unterwegs gewesen! Mein runder Geburtstag stieg am Horizont auf wie ein bedrohlicher Fesselballon und ich glaubte, den Eintritt in ein neues Lebensjahrzehnt am besten auf Reisen zelebrieren zu können…

Ich fing an im Web zu surfen, kaufte mir old-school-mässig Landkarte und Buch („Baikalsee" von Heike Mall und Roger Just - eines der wenigen brauchbaren Bücher über die Gegend!) und startete eine Traumphase um meine Intention auszuloten. Aber auf jeden Fall war klar, ich brauchte Logistik, denn ich wollte eines nicht: eine organisierte Gruppenreise - für einen Individualisten eine Horrorvorstellung. Von all den Webkontakten, die mir zielführend erschienen, kristallisierte sich letztendes um Ende 2020 / Beginn 2021 der Kontakt zu Anna Safronowa als der Schlüssel zum Erfolg dieses Vorhabens heraus.

Durch intensive Kommunikation entstand ein machbarer Reiseplan, bezahlbar und im Rahmen eines normalen Zeitrahmens für einen Arbeitnehmer. Wir waren fast soweit, das Projekt scharf zu schalten als klar wurde, die Rechnung war ohne Corona gemacht worden. Um es kurz zu halten, Heimatland und Reisezielland hatten unterschiedliche Vorschriften etabliert und ich wäre verpflichtet gewesen, täglich ein Testzentrum aufzusuchen. Bei aller Liebe zum Reisevorhaben und bei der Traurigkeit darüber, diese Reise um ein Jahr (von 2022 auf 2023) zu verschieben, hatten wir die Rechnung ohne die folgenden Ereignisse gemacht. Unglücklich darüber, dachte ich, das wird nie was…

unterwegs auf dem Eis
Vorausschicken möchte ich auch, dass mir meine Begeisterung für slawische Sprachen quasi in die Wiege gelegt wurde… all meine Vorfahren sind Vertriebene aus Oberschlesien und Pommern…

Speziell mein Opa väterlicherseits hat mir vorgelebt was es bedeutet, in der geheimen Hinterkammer der Seele ein slawisches Herz am Leben zu halten - immer hochemotional, immer auf Moll gestimmt, kindliche Freude gepaart mit Hochwasser im Herzen, Sehnsucht nach slawischer Wohnküche & Gastlichkeit, Verlust von Heimat & was es bedeutet, innerhalb Deutschlands neuer Grenzen wegen des harten schlesischen Akzents Polak genannt zu werden und dass am Ende ein derber polnischer Fluch das beste Labsal für Seelenheil sein kann.

Ich durfte ab 1972 Russisch in der Schule lernen, bis zum abwinken… allein der Lehrplan genügte maximal dazu, über Moskaus достопримечательности oder ein нефтепроизвотельный завод klugzuscheissen. Die Lehrer konnten die Sprache selber nicht wirklich, der Staat sah im Russisch-Unterricht ein Politikum und die Schüler waren unmotiviert wie ihre Eltern auch: wer lernt die Sprache des Besatzers der den Aufstand vom 17. Juni niedergeschlagen hatte???
Aber mit meiner oben genannten Familiengeschichte trug ich eine meinen Klassenkameraden unerklärliche Motivation in mir und war daraufhin jedes Jahr mit Abstand Klassenbester und durfte zur Belohnung an der Russisch-Olympiade teilnehmen und mit desinteressierten überschminkten blondierten Offiziersfrauen aus der sowjetischen Garnison sprechen.

Nach dem Studium verstaubte dieses Talent bis zu dem Tag an dem mein damaliger Chef im Weltkonzern sagte, Sie haben doch mal Russisch gelernt… wir haben da was, dafür kommen nur Sie in Frage. So fand ich mich nach der Zeitrechnung in den chaotischen 90ern in St. Petersburg wieder und meine Liebe zur russischen Sprache erlebte ihren zweiten Frühling.

Seitdem habe ich versucht, Länder des ehemaligen Sowjetreichs auch privat zu bereisen und immer war meine Freude an der Anwendung der russischen Sprache der Türöffner schlechthin unterwegs.


Svent Gustav
Auf einer Datscha nahe St. Petersburg in 1990ern
Zurück zum Traum vom Baikal… ohne hier einen Exkurs in die jüngere Weltgeschichte zu wagen, hatte ich die Hoffnung fast begraben. Dennoch war ich mit Anna in Kontakt geblieben und kurz vor Ende 2023 erfuhr ich von Erleichterungen beim Visaantrag… etwas weniger Papierkram als zuvor, etwas kürzere Bearbeitungszeiten - gepaart mit einer angehobenen Visagebühr. Nun gut. Wir nahmen den ursprünglichen Plan als Vorlage und passten ihn an die Randbedingungen an, die von meinem Arbeitgeber vorgelegt worden: 10 Tage offline geht, mehr eben nicht.

So ist das Leben - waaas guggst du, willst du oder willst du nicht - hätte mein Opa gesagt. Natürlich, Eingeweihte wissen längst, Bookingportale kennen das Reiseland nicht mehr und Überweisungen sind auch nicht auf herkömmlichen Weg zu erledigen - dennoch, ja oder ja, ich wollte dahin bevor ich zu alt bin.
Schamanenfels auf der Insel Olchon

Von Ulan-Bator nach Ulan-Ude

Ich flog am 23.02.2024 mit Stopover in Istanbul nach Ulan-Bator (-30 Grad) und stieg am selben Tag in die Transsib nach Ulan-Ude, welches man nach 15h erreicht - dazu zählen aber auch Stillstandszeiten des Zuges an der mongolisch-russischen Grenze (1,5h auf monglischer Seite, 2h auf russischer Seite).

Man sollte darauf gefasst sein, dass man als Ausländer in diesen Zeiten eine gewisse Aufmerksamkeit erregt - vergleichbar mit der eines bunten Hundes. Russische Sprachkenntnisse, sonst der beste Türöffner, wird am Grenzort mit einem gewissen Interesse nach dem woher / warum / wofür nachgegangen.

Der Zug fuhr dann irgendwann weiter und am 26.02. stieg ich in aller Herrgottsfrühe in Ulan-Ude aus. Dort erwartete mich die schöne Tujana, burjatisch und mit abgeschlossenem Studium der deutschen Sprache. Hätte ich nicht wegen der Kälte bereits rote Wangen gehabt, wäre dies der Beweis gewesen, dass auch ein alter Sack noch spontan rot anlaufen kann.

Tujana zeigte mir die Dinge, die in Ulan-Ude wichtig sind. In der Kathedrale zündete ich eine Kerze im Gedenken an meinen Vater an. Wir fuhren weiter nach Ivolginsk ins Datsan, das grösste buddhistische Kloster auf russischem Boden. Eine tolle Anlage, kein Museum, sondern Ort aktiven buddhistischen Lebens. Tujana erklärte mir jedes Detail bis meine Auffassungsgabe erschöpft war und wir eine Teepause im Cafe einlegen mussten.

Später betraten wir noch den vom Dalai Lama gegründeten Tempel auf dem Hausberg von Ulan-Ude. Die ganze Zeit war Kesha an unserer Seite als Chauffeur und er war es auch, der mich nach Ust-Barguzin brachte, nachdem ich schweren Herzens Abschied von Tujana nehmen musste.
Auf dem Weg nach Ust-Barguzin kehrten wir kurz ein, um uns mit bester einfacher russischer Volksküche zu stärken.

Nach geraumer Zeit tauchte links von der Strasse endlich der Baikal auf, fest zugefroren. Wie ein ungeduldiges Kind bat ich Kesha anzuhalten und stürmte ans Ufer. Hochemotional, die Deiche meines Herzens waren unbrauchbar… die Freudentränen waren nicht zu halten, sie gefroren sofort.
Erstes Treffen mit Baikal

von Ust-Barguzin zur Eisüberquerung

Wir erreichten den Hof von Keshas Eltern Sascha & Galja in Ust-Barguzin am Abend. Endlich die erste Dusche seit Zwischenlandung in Istanbul und danach ein zünftiges russisches Abendessen mit dem ersten Omul in zwei Variationen… danach sank ich beseelt in eine Nacht ohne jegliche zivilisatorische Geräusche.

Am 27.02. ging es nach einem kräftigen Frühstück mit der буханка los zum Baikal. Wir wollten aufs Eis und zur Insel Olchon übersetzen. Sascha erwies sich als umtriebiger kenntnisreicher Fahrer, der auf dem Eis Hinz & Kunz zu kennen schien.
Wir fuhren zuerst auf den gefrorenen Barguzinska Reka und von dort auf den Baikal. Am Anfang säumten Saunahütten den Weg, später folgten die Zelte der Fischer.
Später hielt Sascha an um eine Bohrung im Eis vorzunehmen. Sofort hielten andere Buchankas an - alle scheinen sich zu kennen - und gemeinsam wurde eine Eisdickenmessung abgenommen (78cm).
Ich dachte so, Sibirien kommt mir vor wie ein riesiger Freiluftspielplatz für die letzten echten Burschen: Eisfahren, Eisbohren, Eisangeln, Eissauna… und alle sehen so vierschrötig aus wie aus einem Feuerwehrkalender.
Irgendwann erreichten wir eine Wegmarkierung mit dem Hinweis, dass unter uns in 1642m Entfernung des Baikals tiefster Punkt liegt. Später erreichten wir Kap Choboy, dort war schon einiger Andrang und ich wanderte zu Fuss auf dem Eis bis zu einem vereinbarten Treffpunkt.

Kurz bevor wir mit der Buchanka auf Olchon aufsetzten, kehrten wir in einer Bar auf dem Eis zu einem späten Mittagessen ein. Es gab nur ein Menü, 5-Gänge, nicht mehr und nicht minder - leckerste russische Sibierenküche. Weil es eh zuviel ist, teilten Sascha und ich uns ein Menü, wie zwei alte Freunde: Blicke kreuzen sich, einvernehmliches Kopfnicken - Männer eben.

Insel Olchon

Das Hotel war, genau wie Saschas Gästehaus in Ust-Barguzin, ein warmer sauberer Ort mit leckerem Essen.

Am nächsten Morgen sammelte mich Grigorij ein für eine Rundtour in seinem Niva auf dem südlichen Teil von Olchon. Grösstenteils fuhren wir über Eis, besichtigten Eishöhlen am kleinen Meer und gingen an Land um Shivas Dreizack zu besteigen. Mittag gab es aus dem Kofferraum, von Grigorijs Frau Vera zubereitet. Grigorij lebt seit 22 Jahren auf Olchon, war auch schon Deutsch-Lehrer und gab mir einige philosophische Denksportaufgaben zum russischen Lebensglück und Einsicht in die Notwendigkeit zu Bescheidenheit mit auf den Weg. Am Ende des Ausfluges liess ich mich am Schamanenfelsen absetzen und genoss den herrlichen Ausblick bei frischer Brise. Zum Glück gibt es dort einige Cafes wo man sich im Nachgang aufwärmen kann.
Einen Morgen später holte mich Sascha wieder in Chuzhir ab und wir traten den Rückweg übers Eis nach Ust-Barguzin an. Östlich von Kap Choboy war das Eis am Vormittag auseinandergedriftet und eine direkte Überfahrt nicht möglich.
Doch was einen Städter zur Umkehr bewegen würde, ist für einen pragmatischen Typen wie Sascha keine Option. Letztendes nahm er gehörig Anlauf mit der Buchanka und setzte mit Schmackes über.
Später erreichten wir eine kleine Kantine auf dem Eis, komplett mit zwei Yurten, Saunahütte, Eisloch im See und Badezuber: russischer Lifestyle!

Nach der Überfahrt checkten wir im Nationalpark nördlich von Ust-Barguzin ein und verbrachten den späten Nachmittag am Chivyrkujskij Zaliv, mit tollen Ausblicken und Eishöhlen. Selbst ein neugieriger Fuchs liess es sich nicht nehmen, etwas Nahrung anzunehmen als Abwechslung zur Winter-Diät.
Zur Nacht war ich wieder bei Sascha & Galja untergebracht; bei der Ankunft war die Banja bereits angefeuert und wartete auf Gäste.
Am Morgen des 01.03., pünktlich zum russischen Frühlingsanfang, musste ich leider die Heimreise antreten - auf demselben Wege über Ulan-Ude, Ulan-Bator, Istanbul nach Hause.
Ich bin überwältigt von der Gastfreundschaft und dem gelebten Verständnis, dem Reisenden mit begrenzten Möglichkeiten der Kommunikation in der russischen Sprache entgegenzukommen.
Wir konnten über Klima, Gott & die Welt reden - und notfalls unterstützten Mimik & Gestik den fehlenden Wortschatz.
Was sagte einer von Saschas Freunden als Trinkspruch:
„Auf die Freundschaft! Die Freundschaft war immer das Wichtigste zwischen uns, und heutzutage ist die Freundschaft noch wichtiger denn je."

Bei solchen Trinksprüchen kann der Füllstand einer Flasche schon mal aus dem Blickwinkel geraten.
Fest steht eins Leute, ich fahr dort nochmal hin. Sibirien ist zu schade für einen One-Night-Stand!

Mein grenzenloser Dank gilt Anna, die aus der Ferne die Fäden des Reiseplans gesponnen hat und daraus eine machbare Agenda gestrickt hat!


Svent Gustav Baikal 2024
Vielen Dank für die Bilder an Svent Gustav
Baikal Reise Russland 2024
REISEPLAN:

Tag 1 - Flug über Istanbul nach Ulan-Bator
Tag 2 - Zugfahrt von Ulan-Bator nach Ulan-Ude
Tag 3 - Ulan-Ude — Ust-Barguzin
Tag 4 - Autofahrt auf dem Eis von Ust-Barguzin zur Insel Olchon
Tag 5 - Insel Olchon
Tag 6 - Autofahrt auf dem Eis von Olchon nach Ust-Barguzin via Tschiwyrkujski Bucht
Tag 7 - Ust-Barguzin — Ulan-Bator. Zugfahrt von Ulan-Ude nach Ulan-Bator.
Tag 8 - Heimreise via Istanbul
In wirren Zeiten legen wir oft unser Leben und unsere Träume auf Eis. Das macht uns blind für die Möglichkeiten von heute. Ich bin sehr froh, dass Svent sie doch erkannt hat und es trotz der Schwierigkeiten geschafft hat, diese lange abenteuerreiche Reise von Tausenden von Kilometern nach Osten zum zugefrorenen Baikalsee zu unternehmen und heutiges Alltagsleben in Russland kennenzulernen. Denn die Träume müssen in Erfüllung gehen!
Ich bedanke mich für diesen wunderschönen aufrichtigen Bericht, der so liebevoll von Svent spontan im transsibirischen Zug auf dem Rückweg aus Ulan-Ude nach Ulan-Bator geschrieben wurde.

Anna Safronowa
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