Reisen nach Russland
in schwierigen Zeiten

via Kaliningrad nach Moskau und auf der Wolga nach Sankt Petersburg
September 2023
aus Berlin nach Russland
auf dem Landweg
Land und Leute
Aktueller Blick auf Russland
aus Touristen-Perspektive
Dietmar Ringel
Fehrbellin, Deutschland
Ihr seid ja mutig! - sagten einige unserer Freunde anerkennend, als sie von unserer geplanten Russlandreise im September 2023 erfuhren. Von anderen ernteten wir Kopfschütteln: Wie kann man in diesen Zeiten ausgerechnet nach Russland fahren? Doch wir hatten uns bewusst dafür entschieden, die Reise trotz des Krieges in der Ukraine anzutreten.
Wenn sich Menschen nicht mehr begegnen, wachsen Vorurteile.
Dann haben es diejenigen leichter, die auf Hass und Konfrontation setzen.
Da wollten wir nicht mitspielen.
Also überlegten wir, was bei der Reise zu bedenken war.

Zuallererst: Wie kommt man nach Russland? Flüge sind möglich, aber teuer und umständlich, da sämtliche Direktverbindungen zwischen Deutschland und Russland gekappt sind. Wir erfuhren vom Angebot eines Reiseveranstalters
aus Leipzig, mit dem Kleinbus nach Kaliningrad zu fahren. Von dort sollte es mit einem russischen Inlandsflug nach Moskau weitergehen, anschließend mit dem Schiff nach St. Petersburg und von dort wieder über Kaliningrad zurück nach Hause.
So der Plan – würde er aber den Praxistest bestehen?

Natürlich machten wir uns Sorgen. Was ist mit den Drohnenangriffen auf Moskau? Werden vielleicht die Grenzen geschlossen, wenn wir in Russland sind? Und wie bezahlen wir unsere Rechnungen, wenn Geldkarten aus dem Westen nirgendwo funktionieren? Dass wir trotz der Vorbehalte die Reise antraten, geht auch auf das Konto verlässlicher Helfer. Ein guter Freund, der als Russlanddeutscher mit seinen Eltern nach Deutschland gekommen war und später nach Russland zurückkehrte, stand uns mit guten Ratschlägen zur Seite und half beim Kauf der Flugtickets. Und dann war da noch Anna Safronowa, die jahrelang von Moskau aus deutschsprachige Reisen durch Russland organisiert hatte und uns bei bei einem früheren Russlandbesuch behilflich war. Sie baten wir um eine deutschsprachige Stadtführung durch St. Petersburg und Tickets für diverse Kulturveranstaltungen. Doch noch wichtiger war, dass Anna während der gesamten Reise mit uns in Kontakt bleiben wollte und Hilfe anbot, falls es Probleme geben sollte.

Tipp von Dietmar: bei Planung einer Reise heute ist es besonders wichtig verlässliche Helfer in Russland zu haben, die vor und während des Aufenthalts in Russland Ihnen immer zur Verfügung stehen.
Blieb noch die Frage: Wie machen wir es mit dem Geld? Ohne funktionierende Geldkarten müssten wir ausreichend Bargeld mitnehmen. Zehntausend Dollar darf man pro Person nach Russland einführen. Da man beim Umtausch von Euro in Dollar allerdings viel Geld einbüßt, steckten wir pro Person Dreitausend Euro ein. Und hofften, die polnischen Grenzbeamten würden uns das Geld nicht abnehmen - Erfahrungsberichten zufolge soll das bereits vorgekommen sein.
Flughafen Kaliningrad
Am Flughafen Chrabrowo
Kaliningrad

Auf nach Kaliningrad

Nun war es genug mit dem Planen und Überlegen. Am Freitag, dem 15. September, setzten wir uns ins Auto und fuhren nach Berlin-Schönefeld. Auf einem Parkplatz in Flughafennähe stellten wir das Auto ab und bestiegen kurz vor 11.00 Uhr den roten Minibus, der leicht verspätet aus Leipzig ankam und nun mit insgesamt 8 Reisenden an Bord in Richtung Kaliningrad weiter rollte.
Durch Polen ging es flott voran, die Autobahnen dort sind bestens in Schuss, die Raststätten gepflegt und mit deutlich besserem Angebot als in Deutschland – von den Preisen ganz zu schweigen. Um Danzig herum staute es sich, gegen 19.00 Uhr waren wir schließlich an der russischen Grenze. Dort wurden wir freundlich behandelt, sowohl auf polnischer als auch auf russischer Seite. Gepäckkontrollen gab es nicht, Reisende mit russischem Pass wurden von den Polen allerdings strenger kontrolliert als diejenigen mit EU-Pass. Um unser Bargeld hat sich niemand gekümmert. Nach einer guten Stunde rollte unser Bus weiter – jetzt durch Russland. Und gegen 21.00 Uhr waren wir im Friday Center angekommen, einem gepflegten Hostel am Stadtrand von Kaliningrad. Dort genehmigten wir uns ein (deutsches!) Bier für umgerechnet etwa 1,20 Euro und bekamen kostenlos eine große Portion Pelmeni. Dann ging es ab ins Bett, denn schon am nächsten Morgen sollte es weiter nach Moskau gehen.


Nach einer erholsamen Nacht und einem guten Frühstück bestiegen wir morgens kurz nach 8.00 Uhr ein Taxi und waren eine knappe halbe Stunde später am Flughafen von Kaliningrad. Die Kontrollen und der Check-In verliefen reibungslos, so dass wir Zeit hatten, uns in den Geschäften am Airport umzusehen. Der erste Eindruck sollte sich später überall bestätigen: Das Warenangebot ist ausgezeichnet, Lücken in den Regalen sind nicht zu erkennen. Und trotz der Sanktionen sind weiterhin auch viele Westprodukte erhältlich (z.B. Kosmetika, Alkohol, Bekleidung). Allerdings haben die Preise ordentlich angezogen.

Zwischenstopp in Moskau

Die Aeroflotmaschine nach Moskau war nahezu ausgebucht und landete pünktlich auf dem Flughafen Sheremetyevo. Von dort ging es per Taxi zum Hotel „Cron", das zwar an der lauten Leningrader Chaussee liegt, dafür aber nahe beim Flussbahnhof, wo am nächsten Tag unsere Flusskreuzfahrt nach St. Petersburg starten sollte. Kurzes Einchecken, dann zu Fuß ins nahegelegene Einkaufszentrum, um Geld zu tauschen und eine russische Simcard fürs Handy zu kaufen.
Tipp von Dietmar: eine russische Simcard fürs Handy bekommt man für rund zehn Euro und kann damit zum Beispiel „Yandex Go" nutzen, um sehr preiswert und komfortabel Taxi zu fahren: Gewünschtes Ziel eingeben, Fahrzeugklasse wählen – schon bekommt man ein Angebot mit Festpreis. Nach spätestens fünf Minuten kann man einsteigen.
In Moskau entschieden wir uns trotzdem für die Metro, denn wir wollten nur schnell ein Wiedersehen mit dem Roten Platz feiern, und flotter als mit der Metro kommt man dort nicht hin.

Der Rote Platz ist immer ein Ereignis, aber noch mehr, wenn er in der Herbstsonne leuchtet. Dass westliche Touristen fehlten, war für uns nicht zu spüren. Chinesen waren da und Inder und natürlich viele Einheimische. Auch im GUM, dem historischen Kaufhaus mit den vielen Luxusgeschäften, war das Gedränge groß. Der Luxus dort hat uns weniger interessiert, dafür der Riesenbrunnen, in dem Melonen wie Wasserbälle schwammen, und die Stände mit Speisen und knallbunter Keramik aus Usbekistan. Höhepunkt waren allerdings zwei Schauspieler, mit denen man sich draußen auf der Straße fotografieren lassen konnte. Der eine hatte entfernte Ähnlichkeit mit Stalin, der andere sah Lenin zum Verwechseln ähnlich und rief auf deutsch: „ Es lebe der erste Mai, es lebe der Frieden, es lebe Freundschaft Volkes russisch und deutsch!" Die Fünftausend Rubel (ca. 50 Euro), die er dafür wollte, hat er von uns zwar nicht bekommen. Aber 500 Rubel war uns der Spaß wert.

Leinen los – Richtung St. Petersburg

Die 15 Minuten Fußweg vom Hotel Cron zum Flussbahnhof waren mit Rollkoffer kein Problem. Dafür verwirrten uns die vielen Menschen am mehrere Hundert Meter langen Kai und die Tatsache, dass wir unser Schiff nicht finden konnten. Die Erklärung war einfach: Es lag in zweiter Reihe neben einem anderen Kreuzfahrtschiff, das uns die Sicht versperrte. Doch dann ging alles reibungslos. Die Kabine war schnell bezogen, anschließend ging es rauf auf´s Sonnendeck, um die Abfahrt zu genießen. Vor allem der Blick auf das zwar riesige und dennoch filigrane Gebäude des Flussbahnhofs ist eine Wucht. Der Bau erinnert an einen alten Flussdampfer mit zwei Decks, aus dessen Mitte ein schlanker, 85 Meter hoher Turm emporragt
Flusshafen in Moskau. Reise Russland 2023
Nördlicher Flughafen Moskau
Beim ersten Mittagessen lernten wir unsere Tischnachbarn kennen: Oksana und Sergej sowie Anna und Wladimir, zwei Paare aus Moskau, das erste um die 30, das andere in den 50ern. Mit ihnen sollten wir alle Mahlzeiten gemeinsam einnehmen, was eine gute Fügung war. Denn Oksana ging gleich in die Offensive, stellte sich und ihren Partner vor und wollte wissen, mit wem sie es am Tisch zu tun hatte. Dass ich noch ganz gut russisch kann, war für unsere Gespräche hilfreich. Wenn es holperte, halfen wir uns mit dem Übersetzungsprogramm auf dem Handy. Auf diese Weise kamen wir sehr gut miteinander klar. Wir erfuhren, dass Sergejs Vater vor kurzem gestorben war und Oksana und er dessen Tauben geerbt hatten, dass beide wegen ihrer Arbeit immer früh raus müssen und sie deshalb an Bord regelmäßig ein Mittagsschläfchen machen wollten. Anna und Wladimir zeigten uns Fotos von ihrem Hund, wir zeigten ihnen welche von unserer Katze und den Hühnern, die zu Hause auf uns warteten. Alle vier waren uns vom ersten Moment an sehr sympathisch. Mit Fragen zum Krieg in der Ukraine wollten wir sie nicht in Verlegenheit bringen. Doch in unseren Gesprächen schimmerte immer wieder durch, dass ihnen so wie uns Frieden und Verständigung am Herzen liegen. Dass wir in diesen verrückten Zeiten in ihr Land kamen, fanden sie großartig. Dass sie selbst im westlichen Ausland derzeit wenig willkommen sind, machte sie traurig. Ganz abgesehen davon, dass sich russische Normalverdiener solche Reisen derzeit kaum leisten können. Sehr gerührt waren wir, als Oksana und Sergej eines Abends an unsere Kabinentür klopften und uns einen geräucherten Stör schenkten. Den sollten wir unbedingt probieren, um zu wissen, wie echter Wolga-Fisch schmeckt.
Geräucherter Wolga-Stör. Reise Russland 2023
Restaurant an Bord des Kreizfahrtschiffes. Reise Russland 2023
Unsere Kabine an Bord des Kreizfahrtschiffes. Reise Russland 2023
Die Fahrt nach St. Petersburg sollte sieben Tage dauern. Dabei führt nur ein kleiner Teil der Strecke über die Wolga, dann geht es Richtung Norden durch Kanäle, kleinere Flüsse und die beiden riesigen Seen Onega und Ladoga, um schließlich über die Newa St. Petersburg zu erreichen. Stationen sind vor allem kleine Örtchen im Grünen mit alten Holzhäusern, stattlichen Kirchen und ebensolchen Klöstern.
Besonders beeindruckt waren wir von Valaam, einer Inselgruppe im Ladogasee. Das gesamte Areal steht unter Naturschutz, was auch bedeutet: Pilze sammeln ist streng verboten, selbst wenn die schönsten Exemplare gleich am Wegesrand stehen. Darüber hinaus hat Valaam eine reiche und wechselvolle Geschichte. Mal war es finnisch, mal russisch, beide Kulturen haben ihre Spuren hinterlassen.

1941 wurden hier Jungen aus Waisenhäusern für eine Eliteeinheit der sowjetischen Seekriegsflotte ausgebildet. Es heißt, sie hätten darauf gebrannt, in den Krieg gegen Deutschland zu ziehen, um ihr Vaterland zu verteidigen. Doch nur wenige von ihnen überlebten – an die anderen erinnert heute ein Mahnmal. Zu sowjetischen Zeiten war die gesamte Klosteranlage ein Heim für behinderte Menschen, die das öffentliche Bild der sozialistischen Städte nicht „stören" sollten und deshalb in abgeschiedene Gegenden gebracht wurden. Manche, so unsere Reiseleiterin, sprachen nach dem Ende der Sowjetunion von einer Art Internierungslager, andere von einem Sanatorium. Die Wahrheit liege wohl irgendwo in der Mitte, meinte sie. Die Menschen seien zwar gut behandelt worden, es habe Tanzveranstaltungen und Kino gegeben. Doch über ihr Schicksal habe der Staat entschieden, nicht sie selbst oder ihre Familien. In den 1990er Jahren kehrten die Mönche zurück nach Valaam, die sich seitdem mit den Touristen die Insel teilen.

Kreuzfahrtschiffe auf Walaam. Reise Russland 2023
Walaam Kloster. Reise Russland 2023
Walaam. Reise Russland 2023
Bemerkenswert an Bord waren vor allem die vielfältigen Kulturveranstaltungen. Ein Saxophonist und ein Pianist gaben jeden Tag Konzerte in der Bar, im Konferenzsaal wurde das „Duo Retro" mit Liedern aus den 60er und 70er Jahren beklatscht, eine Schauspielerin präsentierte musikalisch-literarische Programme, und eine Opernsängerin begeisterte mit Liedern der deutschen Romantik und Arien aus russischen Opern. Selbst in der Disko gab es jeden Abend Live-Musik. Ich weiß, auf Kreuzfahrtschiffen ist immer volles Programm. Aber solch eine Breite und Qualität auf einem Schiff mit knapp 300 Passagieren? Wir haben es genossen.

Wenn schon St. Petersburg, dann richtig

… dachten wir uns und packten unser Programm für die sechs Tage in der Stadt randvoll. Natürlich mussten die Residenzen von Katharina II. und Peter I., Zarskoje Selo und Peterhof, dabei sein. Außerdem die Eremitage mit den Rembrandts, van Goghs und den vielen anderen alten Meistern sowie das Fabergé-Museum im Jussupow-Palast. Alles großartig, keine Frage. Doch das beste an St. Petersburg ist St. Petersburg: Eine lebendige, moderne Großstadt, deren historisches Gewand wie angegossen passt. Man denkt an jeder Ecke, genau so muss es sein. Palast reiht sich an Palast, dazwischen die Flüsse und Kanäle mit ihren kleinen und großen Brücken, die Isaak-Kathedrale, der Sommergarten, die Peter und Pauls – Festung... Die Sehenswürdigkeiten der Stadt sind so oft beschrieben worden, dass ich das hier nicht wiederholen will. Man muss sie einfach gesehen haben! Und wer jetzt kommt, hat den Vorteil, dass sich das Gedränge in Grenzen hält. Für die russische Tourismusbranche ist das Wegbleiben westlicher Touristen zwar bitter, doch die Zahl chinesischer, indischer und arabischer Besucher nimmt wieder zu. Außerdem erlebt der russische Inlandstourismus einen Boom.
Gleich für unseren ersten Tag in St. Petersburg hatte uns Anna eine deutschsprachige Ganztagsführung organisiert. Damit wollten wir uns die Grundlage für die folgenden eigenen Erkundungen schaffen. Und mit Anastasia als Reiseleiterin gelang das bestens. Da Sonntag war, kamen wir mit dem eigens für uns gemieteten PKW schnell von Ort zu Ort. Am eindrucksvollsten war die Stadt allerdings vom Wasser aus. Eine Stunde lang ging es mit dem Motorboot über Mojka und Fontanka sowie die vielen Kanäle, die St. Petersburg durchziehen. Das Problem: Am liebsten möchte man jeden Palast, jede Brücke, jedes Detail fotografieren und weiß gar nicht, wohin man zuerst schauen soll. Dank Anastasia gelang es uns dann doch, den Überblick zu behalten. Von ihr erfuhren wir auch, dass Reiseleiter gerade eine schwere Zeit durchmachen. Sie hat mit etwas Glück alle paar Wochen einen deutschen Gast oder eine kleine Gruppe. Ansonsten verdient sie ihr Geld als Nachhilfelehrerin für Deutsch. Irgendwie kommt sie klar, sagt sie. Und hofft, dass die Zeiten wieder besser werden. Sie selbst reist auch gern, zum Beispiel Italien würde sie reizen. Ob es klappt, weiß sie aber nicht. Auch der ewige Streit über die Politik nervt sie. Kein Familientreffen, sagt Anastasia, bei dem es nicht nach wenigen Minuten darum gehe. Am Ende sei alles wie vorher – jeder bleibe bei seiner Meinung. Das kam uns sehr bekannt vor... Aus Touristenperspektive ist übrigens vom Krieg so gut wie nichts zu spüren. Weder fiel uns viel Polizei auf den Straßen auf, noch gab es irgendwelche Einschränkungen. Alle Internetseiten, die wir aufriefen, waren verfügbar, und auf der Liste der TV-Sender im Hotel waren auch BBC World und France24. Nicht zu übersehen waren allerdings die vielen Reklametafeln, auf denen für den Eintritt in die russische Armee geworben wurde – mit umgerechnet rund Siebentausend Euro Sofortzahlung und einem Anfangsgehalt von Zweitausend Euro monatlich. Für russische Verhältnisse ist das eine Menge Geld.

Wie man in diesen Zeiten in Russland klarkommt, wollten wir auch von Alex wissen, einem ehemaligen Schulfreund meines Sohnes. Er war als Kind mit seinen Eltern als Russland-Deutscher nach Berlin gekommen, hat dort Abitur gemacht und erfolgreich ein Wirtschaftsstudium absolviert. Während seine Eltern in Deutschland blieben, zog es ihn aber in die alte Heimat zurück. Seit einiger Zeit lebt er mit seiner Frau und drei Kindern in Samara. Alex hatte uns Tipps für unsere Reise gegeben und die Flüge für uns gebucht. Nun war er zufällig in St. Petersburg und saß mit uns gemeinsam in einem georgischen Restaurant. Er ist ein kluger Kopf, hatte in Deutschland einen gut bezahlten Job, fühlte sich dort aber nicht mehr wohl. Er habe immer mehr Ablehnung gegenüber Russland und den Russen gespürt, sagt er. Und er glaubt auch, dass er sich beruflich in Russland besser entwickeln kann. Mit den Sanktionen schneide sich der Westen ins eigene Fleisch, Russland werde daraus gestärkt hervorgehen.

Im Peterhof. Reise Russland 2023
Mit Sicht auf die Admiralität. Sankt Petersburg. Reise Russland 2023
Mit dem Motorboot auf den Kanälen in Sankt Petersburg. Reise Russland 2023

Jeden Abend auf Achse

Für das Abendprogramm hatte uns Anna Safronowa ein „Kulturpaket" nach unseren Wünschen geschnürt und uns dafür stets die besten Plätze besorgt. Am ersten Abend ging es in den Jazzclub „Igor Butman". In gepflegtem Ambiente fernab jeder Spießigkeit treten dort Abend für Abend andere Bands und Solisten auf. Wir erlebten eine russisch-italienische Kombination mit einem bemerkenswerten jungen Saxophonisten und einem Sänger, der mit seinem Mix aus russisch und italienisch für Begeisterung sorgte. Mit den zwei Frauen an unserem Tisch kamen wir schnell ins Gespräch. Beide hatten beste Erinnerungen an ihre Besuche in Dresden und Erfurt und bedauerten sehr, dass gerade zwischen Deutschland und Russland neue Mauern entstehen.

Am nächsten Tag ging es ins Mariinsky-Theater. Zuerst war ich enttäuscht, dass das Konzert des Mariinsky-Orchesters unter Chefdirigent Valeri Gergiev im neuen und nicht im alten, historischen Haus stattfand. Doch auch das neue kann sich sehen und vor allem hören lassen. Zumal Gergiev und sein Orchester wie miteinander verwachsen schienen und der Abend ein Klangerlebnis der besonderen Art wurde. Auch die beiden Solisten, der russische Bass Ildar Abdrazakow und der mexikanische Tenor Ramos Vargas, ernteten Jubelstürme.

Am dritten Abend tauchten wir in den Klub „Kamchatka" ab, einen ehemaligen Heizungskeller, in dem der Rockmusiker Viktor Zoi einst Kohlen schippte. Zoi war mit seiner Band „Kino" einer der großen Stars der späten Sowjetunion und starb bereits 1990 kurz nach seinem 28. Geburtstag. Bis heute wird er von vielen Menschen in Russland verehrt, ist seine Musik äußerst populär. Im „Kamchatka" tritt jeden Abend eine andere Band auf, die ausschließlich Lieder von Viktor Zoi spielt. Und das Publikum liegt sich in den Armen.

Auch der folgende Abend hatte es in sich – für uns allerdings etwas zu sehr. Wir hatten Tickets für ein Konzert von Sergej Lazarew im Sportpalast erworben, der mit rund Zehntausend meist jungen Leuten proppevoll war. Lazarew kannten wir von seinen Auftritten beim European Song Contest und wollten ihn mal live erleben. Es war aber mehr Licht und Laser als Musik. Auf uns sprang der Funke nicht über, während die meist weiblichen Fans kreischten und tobten.

Schließlich war noch Ballett an der Reihe, diesmal im Michailowski-Theater. Das vor knapp 200 Jahren eröffnete Haus hat eine wechselvolle Geschichte. Es erlebte die Uraufführungen mehrerer Werke von Schostakowitsch und Prokofjew und war Experimentierbühne des sowjetischen Musiktheaters. Kein Wunder, dass es sich immer wieder gegen Angriffe der damaligen Kulturbürokratie wehren musste. Wir sahen „Bajadere" in der Inszenierung des Spaniers Nacho Duato, dem Ballettchef des Michailowski-Theaters, der einige Jahre auch das Staatsballett Berlin geleitet hat. Vielleicht kein ganz großer Wurf, dennoch Ballett auf hohem Niveau.

Igor Butman Juzzclub. Sankt Petersburg. Reise Russland 2023
Bild von Viktor Zoi an der Bar
Mariinsky Theater. Sankt Petersburg. Reise Russland 2023
Die russische Küche mochten wir schon immer. Auch zu Hause essen wir öfter Borschtsch oder Salat Olivier. Aber „echt russisch" gibt es eben nur in Russland. Beim Frühstück in unserem gemütlichen und stilvollen „Petr Hotel" ließen wir uns Bliny schmecken, die zarten Eierkuchen, die man mit süßer oder herzhafter Beilage essen kann. Oder Syrniki, eine Art Quarkkeulchen, und natürlich jeden Tag ein anderes Kascha, den berühmten Brei aus Hafer, Reis, Grieß oder Buchweizen. Wenn wir es nach dem Theater oder Konzert noch schafften, kehrten wir gern im Restaurant „Petrov Vodkin" gleich neben unserem Hotel ein. Zum Wodka wurden dort russische Tapas serviert, kleine Schwarzbrothäppchen mit Speck und Zwiebel, Sardellen und Meerrettich oder kräftigem Käse. Dort kamen wir mit Ksenia ins Gespräch, die uns freundlich bediente und über kleine Sprachklippen hinweghalf. Sie stammt aus Belarus, lebt aber schon lange in Russland. Auch sie bekommt den Mangel an ausländischen Touristen zu spüren, spät am Abend ist im Lokal wenig los. Für uns sind die Speisen und Getränke eher preiswert. Bei einem Rubelkurs von 1 zu 100 kosten Suppen zwischen 5 und 8 Euro, Beef Stroganoff 15 und ein Filetsteak vom Rind 25 Euro. Doch bei einem Durchschnittslohn von um die 700 Euro im Monat sind das gepfefferte Preise. Das dürfte auch für Ksenia gelten, die sich eine Reise ins westliche Ausland kaum vorstellen kann. Wegen der hohen Kosten, aber auch wegen der Unsicherheit, wie man sie behandeln würde. Von Freunden hat sie gehört, dass man Russen an der estnischen Grenze das gültige EU-Visum zerrissen haben soll. Auch wenn es unwahrscheinlich ist, dass wir uns wiedersehen, haben wir Ksenia unsere Adresse und Telefonnummer dagelassen.

Sechs Tage St. Petersburg sind eindeutig zu wenig. Unbedingt aus der Nähe sehen wollten wir noch das Hochhaus des Lachta-Zentrums, mit 462 Metern das höchste Gebäude Europas. Beeindruckend ist es schon, allerdings ist der Komplex, an dem seit 2012 gebaut wird, immer noch nicht fertig. Den Blick von der Aussichtsplattform mussten wir deshalb auf unseren nächsten Besuch in der Stadt verschieben.

Vielen Dank für die Bilder an Dietmar Ringel
Was nicht geht, ist eine Reise nach St. Petersburg ohne Piskarjowskoje-Friedhof und Blockademuseum. 872 Tage dauerte die Blockade Leningrads durch die Deutsche Wehrmacht, von September 1941 bis Januar 1944. Mehr als eine Million Menschen starben, die meisten von ihnen verhungerten. Im Museum sieht man ein graues, vertrocknetes Stück Brot aus dieser Zeit. Genau 250 Gramm schwer – die tägliche Ration eines Arbeiters.

Fast eine halbe Million Opfer der Blockade ruhen auf dem Piskarjowskoje-Gedenkfriedhof im Nordosten von St. Petersburg. „Niemand ist vergessen, und nichts wird vergessen", ist in die Granitmauer am dortigen Mahnmal eingraviert.

Mögen es so viele Menschen wie möglich lesen ...

Birgit und Dietmar Ringel, Fehrbellin
Reise Russland 2023
REISEPLAN:

Tag 1 - Busfahrt Berlin - Kaliningrad
Tag 2 - Flug Kaliningrad - Moskau
Tage 3 - 9 - Kreuzfahrt von Moskau nach Sankt Petersburg
Tage 10 - 15 - Sankt Petersburg
Tag 16 - Heimreise von Sankt Petersburg via Kaliningrad nach Berlin

Kaum Jemandem fällt es heute ein, Russland als attraktives Reiseziel zu betrachten. Ja, das ist klar, aber die Tatsache ist, dass es gerade jetzt eine Möglichkeit gibt, Russland von innen zu sehen, mit Einheimischen zu sprechen und unser Land unter veränderten Umständen ohne Vorurteile und Stereotypen (und ohne eine große Anzahl ausländischer Touristen) zu entdecken. Schließlich gibt es immer noch Menschen, die sich für unser Land interessieren und die Gäste aus dem deutschsprachigen Raum willkommen heißen. Wir möchten unbedingt miteinander weiter direkt sprechen. Ich bin Birgit und Dietmar für ihre Offenheit, ihren Einsatz und ihren Mut, 2023 nach Russland zu reisen, sehr dankbar und freue mich, dabei mitgemacht zu haben.

Anna Safronowa
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