Gleich für unseren ersten Tag in St. Petersburg hatte uns Anna eine deutschsprachige Ganztagsführung organisiert. Damit wollten wir uns die Grundlage für die folgenden eigenen Erkundungen schaffen. Und mit Anastasia als Reiseleiterin gelang das bestens. Da Sonntag war, kamen wir mit dem eigens für uns gemieteten PKW schnell von Ort zu Ort. Am eindrucksvollsten war die Stadt allerdings vom Wasser aus. Eine Stunde lang ging es mit dem Motorboot über Mojka und Fontanka sowie die vielen Kanäle, die St. Petersburg durchziehen. Das Problem: Am liebsten möchte man jeden Palast, jede Brücke, jedes Detail fotografieren und weiß gar nicht, wohin man zuerst schauen soll. Dank Anastasia gelang es uns dann doch, den Überblick zu behalten. Von ihr erfuhren wir auch, dass Reiseleiter gerade eine schwere Zeit durchmachen. Sie hat mit etwas Glück alle paar Wochen einen deutschen Gast oder eine kleine Gruppe. Ansonsten verdient sie ihr Geld als Nachhilfelehrerin für Deutsch. Irgendwie kommt sie klar, sagt sie. Und hofft, dass die Zeiten wieder besser werden. Sie selbst reist auch gern, zum Beispiel Italien würde sie reizen. Ob es klappt, weiß sie aber nicht. Auch der ewige Streit über die Politik nervt sie. Kein Familientreffen, sagt Anastasia, bei dem es nicht nach wenigen Minuten darum gehe. Am Ende sei alles wie vorher – jeder bleibe bei seiner Meinung. Das kam uns sehr bekannt vor... Aus Touristenperspektive ist übrigens vom Krieg so gut wie nichts zu spüren. Weder fiel uns viel Polizei auf den Straßen auf, noch gab es irgendwelche Einschränkungen. Alle Internetseiten, die wir aufriefen, waren verfügbar, und auf der Liste der TV-Sender im Hotel waren auch BBC World und France24. Nicht zu übersehen waren allerdings die vielen Reklametafeln, auf denen für den Eintritt in die russische Armee geworben wurde – mit umgerechnet rund Siebentausend Euro Sofortzahlung und einem Anfangsgehalt von Zweitausend Euro monatlich. Für russische Verhältnisse ist das eine Menge Geld.
Wie man in diesen Zeiten in Russland klarkommt, wollten wir auch von Alex wissen, einem ehemaligen Schulfreund meines Sohnes. Er war als Kind mit seinen Eltern als Russland-Deutscher nach Berlin gekommen, hat dort Abitur gemacht und erfolgreich ein Wirtschaftsstudium absolviert. Während seine Eltern in Deutschland blieben, zog es ihn aber in die alte Heimat zurück. Seit einiger Zeit lebt er mit seiner Frau und drei Kindern in Samara. Alex hatte uns Tipps für unsere Reise gegeben und die Flüge für uns gebucht. Nun war er zufällig in St. Petersburg und saß mit uns gemeinsam in einem georgischen Restaurant. Er ist ein kluger Kopf, hatte in Deutschland einen gut bezahlten Job, fühlte sich dort aber nicht mehr wohl. Er habe immer mehr Ablehnung gegenüber Russland und den Russen gespürt, sagt er. Und er glaubt auch, dass er sich beruflich in Russland besser entwickeln kann. Mit den Sanktionen schneide sich der Westen ins eigene Fleisch, Russland werde daraus gestärkt hervorgehen.