Wolgograd
Eine Stadt gegen das Vergessen

Oktober, 2018
980 km von Moskau

Delegation aus Deutschland
Kriegsgeschichte von Stalingrad
Reise des Arbeitskreises Kultur- und Bildungsreisen
Gisbert Graff
Vertreter des Arbeitskreises Kultur- und Bildungsreisen der Gesellschaft zum Schutz von Bürgerrecht und Menschenwürde, Berlin
Anlässlich des 75. Jahrestags des Sieges der Roten Armee in der Schlacht um Stalingrad folgte der Arbeitskreis Kultur- und Bildungsreisen der GBM mit fast 40 Mitgliedern, der Vereine GBM, GRH, Rotfuchs und ISOR einer Einladung des Oberbürgermeisters von Wolgograd, Herrn Andrej Kosolapow, zu einem mehrtägigen Besuch der Stadt.
Das Interesse unserer Mitglieder war sehr groß. Die Erinnerung an die Schlacht vor 75 Jahren ist gerade jetzt gegenwärtig. Von unseren Politikern in Deutschland wird nur selten an diese Geschichte erinnert. Aber die Teilnehmer unserer Reise waren der Meinung, ohne diese Geschichte kann man sich keine Zukunft vorstellen. Deshalb kann es doch nur eine Alternative geben: Rückkehr zum Kalten Krieg oder gute Nachbarschaft zwischen Russland und Deutschland. Wir erinnern uns noch an die guten Beziehungen zwischen der Sowjetunion und der DDR. Diese waren als Staatspolitik in der Verfassung der DDR verankert. Dazu gehörten die Städtepartnerschaften, die wissenschaftlichen, sportlichen, kulturellen und wirtschaftlichen Beziehungen, Freundschaftszüge der Jugend und Studienaufenthalte. Viele junge Bürger der DDR haben an der Baikal-Amur-Magistrale in Sibirien oder der Erdgastrasse "Sojus" gearbeitet. Es entstanden Freundschaften und menschliche Kontakte, die heute noch gepflegt werden.

Wolgograd, das ist nicht genau meine Traumstadt. Aber eigentlich hatte ich mir schon sehr früh vorgenommen, dort musst du einmal im Leben hin
Jürgen Steinbrück
Teilnehmer der Reise
In Wolgograd besuchten wir die wichtigsten Sehenswürdigkeiten. Fast jeder Ort der Stadt - von der Allee der Helden, dem Mamajew-Hügel, dem Soldatenfriedhof bis zur Straße der Roten Armee - hält die dramatische Geschichte der Stadt wach. Auf dem zentralen Platz der gefallenen Kämpfer der Roten Armee - umgeben von Gebäuden des sozialistischen Klassiszismus - legte unsere Gruppe zu Ehren der Kämpfer gemeinsam mit Vertretern der Duma Wolgograds ein Blumengebinde nieder.
Niederlassung der Blumen am Platz der Gefallenen Kämpfer
Mit dem Erklingen der "Träumerei" des deutschen Komponisten Robert Schumann betraten wir den Mamajew-Hügel, das meistbesuchte Denkmal in Russland. Tief bewegt ehrten wir die gefallenen Helden der Roten Armee mit einem Rosenbukett. Diese Gedenkstätte ist das Werk des berühmten sowjetischen Bildhauers Sergej Wutschtitsch, der auch das Sowjetische Ehrenmal in Berlin-Treptow schuf. Schon kilometerweit sieht man die gigantische Frauenfigur mit dem erhobenen Schwert "Mutter Heimat ruft", eine der größten Statuen der Welt. Dese besteht aus sagenhaften 5.500 Tonnen Beton und 2.400 Tonnen Metallkonstruktionen.
Und, wie soll ich sagen, man steht erst einmal da und schaut in die Höhe und sieht nur Treppen. Ein Effekt, der gewollt ist. Beim Aufsteigen dann wächst die riesige Frauenfigur Schritt für Schritt empor. Mütterchen Heimat ruft, da sieht man, nach dem Schwert, das sie trägt, als Eindringlichstes, ihren offenen Mund und die großen Augen. Dann steht sie oben auf dem grünen Hügel, die 8000 Tonnen schwere Figur mit ihrem 33 Meter langen Schwert. Jewgeni Wutschetisch, der auch das Memorial im Treptower Park entwarf, hat ihr das Gesicht seiner Frau gegeben und seinen Freund Wasili Tschuikow, der Verteidiger als Kommandierender der 62. Armee, in der unteren Figur des erdverbundenen Soldaten verewigt
Jürgen Steinbrück
Teilnehmer der Reise
Mahnmal auf dem Mamajew-Hügel
Auf der Wolga unternahmen wir eine Bootsfahrt; von hier aus hatten wir einen herrlichen Blick auf die Stadt rechts und links der Wolga, unter anderem auf das für die Weltmeisterschaften im Fußball 2018 gebaute Stadion, moderne Häuser oder die Wüste als Erholungsgebiet der Wolgograder am rechten Ufer. Unmittelbar an der Uferpromenade liegt das Panorama-Museum mit der Gedenkstätte, das der Schlacht um Stalingrad gewidmet ist. Unser Besuch veranschaulichte uns, dass diese Schlacht bei den Bewohnern bis heute tiefe Spuren hinterlassen hat. In düsterer Bunkeratmosphäre werden die Kampfhandlungen mit einer Vielzahl von Exponaten, Trophäen und Fundstücken nachgestellt. Im Turm des Museums sahen wir das riesige 360°-Gemälde gerade so, als würde man sich auf dem Mamajew-Hügel befinden.
Von den zahlreichen Bildungseinrichtungen Wolgograds haben wir das städtische Kinder- und Jugendzentrum besucht. Empfangen wurden wir von einer 83-jährigen Veteranin, die schon viele Jahre den "Club der Völkerfreundschaft" der Kinder leitet. Mit Begeisterung sprach sie von den langjährigen Kontakten mit der Partnerstadt Karl-Marx-Stadt, die von vielen ausgezeichneten Kindern besucht werden darf. In der Aula dieser Einrichtung fand ein Treffen mit dem Oberbürgermeister der Stadt, Abgeordneten der Stadtduma, dem Vorsitzenden der Friedensstiftung sowie Kriegsveteranen und Kindern und Jugendlichen statt. In den Gesprächen mit hochrangigen Offizieren erfuhren wir, dass Einige in der Schlacht um Berlin gekämpft und nach dem Sieg noch einige Jahre ins Karlshorst gedient haben. Dabei brachten sie zum Ausdruck, nicht gegen das deutsche Volk gekämpft zu haben, sondern gegen den Faschismus. Großes Interesse zeigten die Abgeordneten der Duma für die Aufnahme neuer und die Vertiefung der vorhandenen Beziehungen in allen Bereichen des Lebens.

Höhepunkt dieser Veranstaltung war ausnahmslos das Auftreten der Kinder-Folklore-Gruppe mit Liedern und Tänzen ihrer russischen Heimat. Wir bedankten uns mit Geschenken bei den Kindern, den Vertretern der Stadt und den Kriegsveteranen. Der bekannte Maler und Grafiker Ronald Paris stiftete für dieses Treffen mehrere Lithografien und einen Katalog seiner Bilder mit persönlicher Widmung. Studienreisen führten ihn in die UdSSR, auf denen viele seiner Bilder und Skizzen entstanden.
Dafür herzlichen Dank!

Treffen mit Stadtvertretern und Kriegsveteranen
Auf geht's in die Steppe. Ziel ist der Kosakenort Ilowlija, ein Museumdorf. Unterwegs Weiten über Weiten entlang der Straße Richtung Moskau. Flach und weit, man bekommt einen Blick fürs Original Steppe. Das ist schon beeindruckend. Am Ortstor stehen ein Mann und eine Frau in Tracht und reichen brauchgerecht Brot und Salz, wie man es aus vielen Filmen kennt. Es folgt ein Rundgang durch das Dorf, Erklärung für dies und das, Wohnraum mit roter Ecke - Staunen - in der eine Ikone und, so der Hausherr verstorben ist, eine Mütze sich befinden. In der Küche sind die Frauen die Herscherinnen, man fühlt es bis hin zum Lagerraum und den Hof, dem Handwerksort, man musste ja alles selbst machen.
Der Höhepunkt folgt auf dem Dorfplatz neben dem Ziehbrunnen. Unser Vorturner wird zur Zeremonie im Kreis seiner Lieben gebeten, um zum Ehrenkosak getrimmt zu werden. Und das ging so: Man drückt ihm einen Säbel in die Hand und stelle auf die Breitseite ein Glas Wodka, das er auszutrinken hatte, dann trabte ein geführtes Pferd heran und Gisbertowitsch saß auf, eine tolle Leistung für einen 86-jährigen Nichtreiter, und trabte im Schritt unter Schwingen des Säbels ohne das Tier oder sich zu verletzen eine stramme Runde. Dann bekam er die Peitsche zu spüren und die Urkunde unter tosendem Beifall überreicht. Ehrenkosak, welch Erhebung.
Jürgen Steinbrück
Teilnehmer der Reise
Richtung Wolgograd zurück besuchte unsere Gruppe dann den Soldatenfriedhof Rossoschka, ca. 40 km vor den Toren der Stadt. beim Betreten der Anlage überkam mich ein ungutes Gefühl. Einst blutdurchtränkter Boden, läuft man als Tourist einfach so darüber hin, ich hatte das Gefühl, unter meinen Sohlen bewegt sich was, also, eher so... komisch eben, als müsste ich darüber schweben. Dann steht man vor den Gräbern, sieht die elend langen Namensreihen bzw. die Grabsteine und Helme und kann es doch nicht fassen, dass so viele, vor allem junge Menschen ein gewaltsames Ende genommen haben. Für was?
Jürgen Steinbrück
Teilnehmer der Reise
Am deutsch-sowjetischen Soldatenfriedhof Rossoschka
Der Aufenthalt der Gruppe in Wolgograd endete mit einem Besuch des Theaters der Don-Kosaken. Ausdruck der Herzlichkeit der Wolgograder war auch hier zu spüren: Der Direktor des Theater ließ es sich nicht nehmen, die Gruppe ganz persönlich mit Kosakenliedern zu empfangen. Das erinnerte uns an unseren Aufenthalt im Kosakendorf in der Nähe Wolograds, das wir tags zuvor besuchten und das Leben der Kosaken mit viel Spaß, Speis und Trank kennenlernten.

Die Tage in Wolgograd vergingen viel zu schnell. Die aufrichtige Haltung uns gegenüber, die Herzlichkeit und das Interesse an der Fortführung unserer Beziehungen war für alle Teilnehmer der Reise bewegend.

Bühne frei für Kosakenlieder. Der geübte Ostdeutsche kennt sie, laut, inbrünstig, lang und ausdrucksstark kommen sie herüber begleitet von einer Zerrwanst und einem Virtuosen der ersten Klasse. Der fegt über die Knöpfe, dass man kaum noch die Finger erkennen kann. Eine fast zweistündige Unterhaltung voll Lebensfreude und Optimismus. Das hat Spass gemacht.
Jürgen Steinbrück
Teilnehmer der Reise
Abend im Kosakentheater
Die Reise hatte mich brennend interessiert, weil mein Vater noch kurz vor der Einkesselung der 6. Armee als Fahrer eines Verwundetentransports aus Stalingrad herausgekommen war. Wie viele seiner Generation hat er jedoch nicht über seine Kriegserlebnisse gesprochen.

So war mein Bild von der Schlacht um Stalingrad bis zu dieser Reise äußerst einseitig von den in der Bundesrepublik der 50er und 60er Jahre vorherrschenden antisowjetischen Darstellungen geprägt: nämlich dem Schicksal der eingekesselten deutschen Soldaten, der bewegenden Heimkehr der wenigen Überlebenden nach der Moskau-Reise Adenauers 1955 und dem negativen Leumund von Generalfeldmarschall Paulus. Gewiss, später hätte ich mich über das tatsächliche Geschehen besser informieren können, aber dafür blieb mir wenig Zeit. So verdanke ich der Reise zuallererst, das Versäumte nun nachgeholt und mein Geschichtsbild korrigiert und erweitert zu haben.

Wer noch nicht begriffen hat, was Krieg bedeutet, muss auf die Schlachtfelder von Verdun und vor allem auf den Mamajew-Hügel und in das militär-historische Museum des neuerbauten Wolgograd gehen. Die eindringliche Darstellung der brutalen Bombardierung Stalingrads durch die deutsche Luftwaffe und des monatelangen verlustreichen Häuserkampfes mit ständiger Verschiebung der Fronten ist derart erschütternd und bedrückend, dass man als Deutsche nur innehalten kann und sich der Unmenschlichkeit des Vernichtungsfeldzugs gegen die Sowjetunion auch nach 75 Jahren für das eigene Land schämt. Umso beeindruckender die Freundlichkeit, mit der uns die Einheimischen begegneten, soweit die Reise Kontakte ermöglichte, und beschämend, dass ausgerechnet die Musik eines deutschen Komponisten, Robert Schumanns „Träumerei", in der Ruhmeshalle auf dem Mamajew-Hügel ertönt.

Welch ein Kontrastprogramm an den folgenden Tagen, als uns ein Ausflug nach Nordwesten zu einer Kosaken-Farm in Ilowlja führte, sowie das Treffen mit Veteranen, Stadtverordneten und Jugendlichen im „Kinder- und Jugendzentrum" Wolgograds. Es hinterließ ein versöhnliches Fazit dieser Reise: Stalingrad ist aus den Trümmern wiederauferstanden und lebt. Wie kaum eine andere gemahnt diese Stadt, den Frieden als höchstes Gut der Menschheit zu bewahren. Und so möchte man allen, die weiterhin auf die Macht der Waffen setzen, zurufen: Fahrt nach Wolgograd und seht, was Krieg anrichtet
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Gabriele Gast
Teilnehmerin der Reise
Unsere Reisegruppe
Wolgograd ist die Stadt des ewigen Gedenkens. Ich halte es für besonders wichtig gerade hier darüber nachzudenken, dass der Krieg nie mehr einbrechen soll. Reisenden aus Deutschland kommen jährlich nach Wolgograd, um die Verbindung zwischen unseren Völkern zu festigen. Und ich bin sehr stolz darauf, so eine Reise in allen Details organisiert und die Gäste unterwegs betreut haben zu dürfen.
Herrn Graff lernte ich ein Jahr vorher kennen, als er eine Gruppenreise in Moskau für den Arbeitskreis für Kultur- und Bildungsreisen gewidmet dem Siegestag am 9. Mai in Russland organisierte. Er erfüllt eine sehr wichtige Aufgabe zur Entwicklung der deutsch-russischer Freundschaft, bei der ich ihm immer mit viel Vergnügen helfe.

Während dieser 5 Tage in Wolgograd haben wir vieles zusammen erlebt. Das war eine sehr erlebnisreiche Reise und ich danke allen Reiseteilnehmern und Partnern in Deutschland und Wolgograd recht herzlich für diese wunderschöne Zeit zusammen!


Anna Safronowa
Reisebetreuerin
  • REISEPLAN:
Tag 1 - Flug Berlin-Moskau-Wolgograd.
Tag 2 - Bootsfahrt auf der Wolga. Stadtrundfahrt und Mamajew-Hügel. Besuch des Panoramamuseums der Stalingrader Schlacht und des Paulus-Museums
Tag 3 - Tagesauslug zum Kosakenmuseum im Dorf Ilowlja und Soldatenfriedhof Rossoschka
Abendprogramm: Liederkonzert im Kosakentheater
Tag 4 - Empfang bei Stadtverordneten und Treffen mit Kriegsveteranen beim Konzert im Kinder- und Jugendzentrum
Tag 5 - Heimflug via Moskau

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